
Eines der Dinge, die Herr H. nicht verstand, waren diese Gärten. Vorgärten, wie sie in den Vorstädten und Siedlungen irgendwann überhandnahmen. Grauer Schotter, adrett drapiert, formgeschönte Büschlein, akribisch eingepferchte Wege. Gärten aus Steinen. Steingärten.
Eigentlich dürfte nichts, was aus Sicht eines Schmetterlings eine Wüste genannt werden müsste, den Namen Garten verdienen, befand Herr H.
Einige Jahre zuvor war ihm dieses Phänomen erstmals aufgefallen. Er war aus dem Osten zurück in seine westliche Heimatregion gezogen. In der Stadt am Rande des Ruhrgebiets, geprägt von Einfamilienhäusern und ehemaligen Zechensiedlungen, grassierte gerade die Unsitte, alles Lebendige aus dem Vorgarten zu verbannen. Mit etwas Wohlwollen erkannte Herr H. die strenge Ästhetik japanischer Zen-Gärten. Auch hatte er Verständnis für eine Gartengestaltung, die wenig Pflege benötigte. Doch auch eine Wildblütenwiese erfordert wenig Pflegeaufwand, und ihr ästhetischer Wert ist unbestritten. Fragen Sie jeden Schmetterling, der gerade eine Blüte besucht.
Als Herr H. in die Stadt am Rande des Ruhrgebiets gezogen war, entstand jenseits des Hauses, in dem er wohnte, eine neue Siedlung. Einfamilienhäuser. Der Anteil der Vorgärten, die ausschließlich aus grauem Schotter und gestutzten Buchsbäumen bestanden, lag deutlich im Bereich von 60 %. Nur weshalb?
Wo hatte er nur diese Tendenz bisher übersehen? Im Ostteil der Republik gab es sie offenbar nicht, zumindest nicht in dem Maße. Im Osten war nicht alles so akkurat. Da akzeptierte man ungepflasterte Gehwege auch in den Stadtteilen der Villen mit großen Gärten. Da durfte das Amt eine neue Straßenlaterne auf den alten, gegossenen Betonpfahl setzen, der schon 1985 dort stand. Da wurde ein Kräutlein hier, ein Löwenzahn dort geduldet.
"Was ist es hier so ungepflegt?", erinnerte sich Herr H. an die Frage eines älteren Familienmitglieds während eines Ausflugs ins ländliche Mecklenburg. Das waren nicht die Kategorien, in denen Herr H. den Zustand eines Dorfes beurteilte. Er liebte den Charme des Unperfekten, Unvollendeten. In der DDR war die soziale Kontrolle auf andere Dinge gerichtet, weniger auf das Unkraut im Garten. Das blieb. Im Westen hatte der Zustand des Gepflegtseins Relevanz.
Zur Schotterstein-Vorgarten-Ödnis gehörten passende Hintergärten – sofern ein Einblick möglich war und nicht durch eine Mauer verhindert wurde. Eine Mauer, die aus einem mit Schotter gefüllten groben Drahtgestell bestand. Die Wiederkehr der Bauelemente. Alternativ ein Metallzaun, in den schwarze oder grüne Kunststoffbahnen zum Sichtschutz eingeflochten wurden. Die passenden Hintergärten: Terrasse und Rasen. Eine große Terrasse, auf ihr ein mächtiger Kugelgrill, eine graue Kunststoffsitzgruppe. Der Rasen dauerhaft auf sieben Millimeter Länge gestutzt. Mehr nicht.
Wenn Herr H. einmal einen Vorgarten hätte, würde er einen Schmetterling befragen, wie ihm die Fläche wohl am besten gefalle. So würde er sie gestalten. Herr H. hatte einmal gehört, dass die Zahl der Schmetterlinge, der Insekten insgesamt, dramatisch gesunken sei. Vor allem in Vorgärten. Das stimmte ihn traurig und gab ihm zu denken.
Herr H. wuchs in einer Einfamiliensiedlung in einer anderen Stadt am Rande des Ruhrgebiets auf – der Kreisstadt der Stadt mit den Schotter-Vorgärten. Er erinnerte sich an einen Vorgarten – es waren die 1970er- und 80er-Jahre –, mit großen Birken, mit Ecken, in denen es blühte und wachsen durfte, wie es wollte. Zumindest erst einmal. Er erinnerte sich an einen Hintergarten mit einem Pflaumenbaum und Tannenbäumen, an eine Terrasse, an deren Seite Platz für Blumen war. Auch der Rasen durfte wachsen. Erst einmal. Es gab einen Komposthaufen. Herr H. liebte Komposthaufen. Aus Abfall wird wieder Natur, das unendliche Prinzip von Wachsen, Sterben und erneutem Wachstum. Einen Komposthaufen in einem Hintergarten eines Hauses, dessen Vorgarten ein grauer Schottersteingarten war, konnte Herr H. sich schlichtweg nicht vorstellen. Inzwischen gab es die grüne Tonne in der Stadt am Rande des Ruhrgebiets.
Was Herr H. später erst begriff: In der Siedlung seiner Kindheit war die Familie ob des Wildwuchses im Garten Außenseiter – geduldet. Ein Lob gab es mal vom Nachbarn, als seine Eltern die Tannenbäume im Hintergarten auf halbe Höhe gestutzt hatten. Wo Natur ist, hat Licht es schwer. Licht ist offenbar, was zählt. Nicht die Schmetterlinge.
Nach dem Umzug in eine andere Stadt, im selben Kreis am Rande des Ruhrgebiets, hatte Herr H. einen kleinen Vorgarten. Der wurde von der Mutter des Vermieters gestaltet und gepflegt. Blumen, geformte Koniferen und ja, auch Steine. Aber die Natur war in der Überzahl. Für Wildwuchs war allerdings kein Platz.
Der Eingangsbereich seiner Wohnung war mit Pflastersteinen gepflastert, dort durfte Herr H. sein Auto parken. Zwischen den Steinen begann es im Frühjahr zu sprießen. Ein feines Kraut mit kleinen Blüten, Bonsai-Löwenzahn. Auch das ein oder andere Grünkraut, das Herr H. nicht identifizieren konnte. Selbst kleine Baumsämlinge bahnten sich ihren Weg durch die schmalen Fugen ans Licht. Ob Herr H. sich denn um den Eingangsbereich kümmern möge, fragte die Vermietersmutter Herrn H. und meinte damit, den Bereich frei von Pflanzen zu halten. Sie berichtete, dass sie in ihrer Jugend hier das Unkraut zwischen den Pflastersteinen herausgezogen habe. Es war vor vielen Jahren ein Gasthof gewesen, sie war freundschaftlich mit der Tochter des Hauses verbunden. So half sie hier und dort, auch beim Unkraut. Es war ein ordentliches Haus. Man würde am Pflaster vor dem Haus erkennen, wo ordentliche Menschen wohnen.
Man sah Herrn H., der sich innerlich gegen den Einsatz von pflanzentötenden Mitteln sträubte, häufiger im Eingangsbereich zu seiner Wohnung hocken und Kräuter zwischen den Pflastersteinen wegrupfen. Die größeren Büsche, die sofort ins Auge fielen. Den kleineren zwinkerte er zu. "Euch verschone ich noch etwas, wachst nicht zu schnell", wird er ihnen zugeraunt haben.
Dieser Text ist aus dem Archiv meines Blogs, zuerst erschienen am 23.03.2025, kurz nachdem ich meinen westlichen Standort nach Selm verlegt hatte – lange bevor ich die Gartengeschichten begann. Es war der Beginn deutsch-deutscher Betrachtungen aus dem Osten und Westen unserer Republik.
Herr H. sein Föderalismus
Herr H. ist Wessi, er kommt gebürtig aus Nordrhein-Westfalen. Herr H. ist Ossi, er wohnt seit vielen Jahren in Mecklenburg-Vorpommern. Herr H. ist Ossi und Wessi, er pendelt von hier nach dort. Herr H. kennt Berlin, er kennt Sachsen, auch den Norden und den Süden. Ist er der personifizierte Föderalismus? Er schreibt über Ost und West und fragt sich, welcher regionale Anteil ihm gerade diesen Gedanken beschert hat.