Springe zum Inhalt

Veni, vidi, vegi 5 – Sie sagt es dir

Frau mit zwei Avocado-Hälften
Vegan? Sie wird es dir ganz sicher unter die Nase binden! (Foto: Arina Krasnikova/Pexels)

Woran erkennst du einen Veganer?
Er sagt es dir!

So lautet ein beliebter Witz über vegan lebende Menschen.

Implizieren soll dieser Witz vermutlich, dass Veganer*innen (in Kreisen, in denen solche Witze erzählt werden, wird selten eine geschlechtergerechte Sprache benutzt, daher gehe ich davon aus, dass auch Veganerinnen "mitgemeint" sind) anderen Menschen bei jeder Gelegenheit ihre Vorliebe für pflanzliche Kost unter die Nase binden. Zusätzlich impliziert die Pointe, dass im penetranten Erwähnen der veganen Ernährungsweise auch ein, zumindest subtiler, Vorwurf steckt: Die Rezipient*in dieser Botschaft solle ihre Nahrungsauswahl doch bitte einmal überdenken.

Habe ich schon zu viel hineininterpretiert? Ich vermute eher zu wenig!

Aber mal angenommen, es wäre tatsächlich so. Wäre das nicht in Ordnung? Leider ist es das häufig nicht. Denn die Reaktion beim Menschen, die erfahren, dass ihr Gegenüber ganz auf tierische Produkte verzichtet ist Reaktanz. Geäußert in Sätzen wie:
„Veganer? Ach, das sind die, die meinem Essen das Essen weg essen“
oder
„Aber Pflanzen haben doch auch Gefühle!“

Ein Witz mit Konsequenzen

Meine Konsequenz: Ich erzähle nur ungern, dass ich mich vegan ernähre. Denn daraus sind für mich in der Vergangenheit in der Regel unangenehme Situationen entstanden. Das Essen ist etwas, über das man bei vielen Gelegenheiten mit unterschiedlich vertrauten Personen redet. Die Reaktionen auf Menschen, die vegan leben (können) ist selten offen, neugierig oder zumindest interessiert.

Meine nächste Konsequenz: Vermeidungsstrategien. „Kuchen? Ach nein, danke, ich hatte gerade erst Kuchen. Kaffee, gerne, äh, nein danke, keine Kondensmilch, ich trinke ihn lieber schwarz.“ Bei geselligen, abendlichen Runden esse ich vorab daheim und ignoriere gereichte Häppchen, um mich nicht nach den Inhalten erkunden zu müssen.

Die Folge: Mal abgesehen davon, dass ich 10 Kilo abgenommen habe, seit ich mich konsequent vegan ernähre, da ich auf überflüssige Happen verzichte, ist aber vor allem eine zufriedene Gesprächspartner*in. Das hast du nun davon, liebe Gesprächspartner*in, ich erzähle es dir halt nicht. Du wirst nicht mit meinem Verhalten konfrontiert und musst dein Verhalten auch nicht reflektieren. Bitteschön, gern geschene. Ich aber muss sehen, wie ich mich zurechtfinde, in einer Welt, in der konsequent tierfreundliches Verhalten als extrem gilt.

Veganes Bullshit-Bingo

Die wenigsten Veganer*innen erzählen gern von ihrer Neigung und verzichten darauf, wenn es eben möglich ist, da bin ich mir ziemlich sicher. Allein schon, um dem üblichen Bullshit-Bingo aus sieben Standardsprüchen zu entgehen, der häufig als Antwort kommt. "Er sagt es dir", das ist nur eine Teilmenge.

Woher kommt aber das Gefühl unter fleischessenden Mitmenschen, dass die Pointe irgendwie doch stichhaltig ist? Sie muss es sein, denn sonst würde dieser Witz nicht so regelmäßig aufploppen. Vermutlich gibt es einige Veganer*innen, die gerne über ihre Neigung berichten, sei es in der Hoffnung, zu überzeugen, um zu sticheln oder weil das Thema gerade angesprochen wurde und so schnell keine Ausrede parat ist. Vermutlich gibt es sogar die Kampf-Veganer*in, die es auf Provokation anlegt. Die kenne ich allerdings nur aus Tik-Tok-Videos, im echten Leben ist sie mir noch nicht begegnet. Aber die schweigende vegane Mehrheit ist die deutliche Mehrheit, meiner Einschätzung nach.

Hier mal ein Rechenspiel: Für jede Veganer*in, die dir, lieber Veganer-Witze-Erzähler, von ihrem Vegansein erzählt, gehe von mindestens zwei bis dreien aus, die dir begegnen und es dir nicht berichten. Ja, so viele Menschen gibt es, die diese exotische Neigung tatsächlich haben. Das ist mehr als du dachtest, richtig?

Selektive Wahrnehmung?

Zudem gibt es auch das psychologische Phänomen der selektiven Wahrnehmung. Täglich berichten einem sehr viele Menschen von ihren Vorlieben für Kleidung, Sport, Käsesorten, Fahrzeuge und sonst noch was. Alltägliche Informationen, denen man nur eine halbe Minute Aufmerksamkeit schenkt. Vorbei, vergessen. Aber dieser seltsame Veganer, was fällt dem ein? Erzählt mir, dass es möglich ist, ganz ohne tierische Produkte auszukommen! Und das soll vielleicht sogar noch gesund sein? Skandal! Bleibt dir, liebe Witze-Erzählerin, diese Information vielleicht wegen deines Unbehagens nur länger im Gedächtnis?

Inzwischen erzähle ich es auch zunehmend gern, dass ich (so gut es geht) vegan lebe. Ich versuche es aber so wenig wie möglich als einen Appell zu formulieren. Damit habe ich sehr gute Erfahrung gemacht und stoße, zumindest bei Menschen die ich gut kenne, sogar auf Verständnis. Vielleicht ist die Zeit des veganen Bullshit-Bingos mit zunehmender Sichtbarkeit veganer Produkte einfach vorbei? Oder ich entwickle langsam ein Gespür dafür, was ich wem auf welche Weise sagen kann. Auch in dieser Hinsicht gibt es noch viel zu lernen.


"Veni, vidi, vegi" ist meine monatliche Kolumne zu Themen rund um die vegane Lebensweise. Sie erscheint jeweils am ersten Sonntag im Monat. Alle geschilderten Personen und Situationen sind frei erfunden, jedoch inspiriert von tatsächlichen Begebenheiten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert