
In der Gartenkolonie am See, am Rande der Stadt, hatte alles seine Ordnung. Schließlich ist die Gartenkolonie als ein Verein organisiert, der wiederum Mitglied im Landesverband der Gartenkolonien ist, der seinerseits im Bundesverband der Gartenkolonien Mitglied ist. Es gibt also genügend Ebenen, die Regeln erfinden, diskutieren, beschließen und überprüfen können.
Eine dieser Regeln legt fest, welcher Anteil der gepachteten Fläche für welche Nutzung bestimmt ist. Das regelt sogar ein Gesetz: das Bundeskleingartengesetz (BKleingG) in seiner aktuellen Ausfertigung vom 28.02.1983, mit der letzten Änderung vom 19.09.2006. Es sieht vor, dass jeweils ein Drittel der Gesamtfläche kleingärtnerisch genutzt werden soll, also für den Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern, ein weiteres Drittel für Rasen und Zierpflanzen und das übrige Drittel für Wege, die Gartenlaube und einen überdachten Freisitz. Die Gartenlaube ist dabei auf 24 Quadratmeter beschränkt. Kontrolliert wird jährlich durch die Begehung, in unserem Fall durch die oder den Spartenbeauftragten. Sparte, wie Sektion – mit „r“ in der Mitte
Da wir den Garten bereits in einer mustergültigen und gesetzeskonformen Aufteilung übernommen haben, war die Sache für uns relativ einfach: Für jeden Busch, der einem Stück Wiese weicht, muss ein Stück Wiese wiederum einer Zierpflanze weichen; jeder Quadratmeter Anbaufläche, den wir den Zierbeeten abzwacken, will in die Gegenrichtung wieder ausgeglichen werden. Falls es mal nicht ganz aufgeht, so wurde uns ein Trick mit auf den Weg gegeben: Man könne immer einen Obstbaum pflanzen. Auch wenn drumherum Rasen wächst, zählt er als Anbaufläche, kreisförmig mit einem Durchmesser von 1,5 Metern – also fast 2,5 Quadratmeter, selbst für noch kleine Bäume.
Wir haben übrigens einen Birnbaum, bauchnabelhoch. Getragen hat er in diesem Jahr drei Früchte, die nur einen Durchmesser von 2,5 Zentimetern erreichten und beim ersten Frühlingssturm auf den Rasen fielen, der den jungen Baum umgibt.
So wächst und gedeiht alles dort, wo es wachsen und gedeihen soll: Möhren auf dem Möhrenbeet, Tomaten auf dem Tomatenbeet, Kartoffeln auf dem Kartoffelbeet, Kräuter auf den Kräuterbeeten und Obst auf den imaginären Obstbaumscheiben, die die Bäume umgeben. Auch der Rasen und die Zierpflanzen – alles, wo es hingehört. Dazwischen, als Demarkationslinien: gepflasterte Wege, mit Rindenmulch gemulchte Pfade. Auf dass kein Zierkraut ins Gemüsebeet herüberschwappt und andersherum.
So weit die Theorie. Doch wer schon einmal das Glück hatte, ein Stück Land zu bearbeiten, gesetzlich geregelt oder nicht, der weiß: Pflanzen und deren flugfähigen Samen kann man keine Grenzen setzen. Nein. Unmöglich. So ein Garten besteht nicht aus Flächen dreier Arten, klar getrennt durch den großartigen Plan des Bundeskleingartengesetzes. Er besteht im echten Leben hauptsächlich aus einem: aus Zwischenräumen.
Zwischen den Zierbüschen und dem Zaun zur Nachbarin wächst Giersch.
Zwischen dem Hauptweg und dem Möhrenbeet wächst Spitzwegerich.
Zwischen den Erdbeerpflanzen wächst Ackerwinde.
Zwischen den Platten und den Randsteinen des Hauptweges wächst Sauerklee.
Zwischen den Platten des Hauptweges wächst Gras.
Zwischen den Kieselsteinen, die unsere Laube umgeben, wächst Löwenzahn.
Zwischen dem Gras wächst kriechender Hahnenfuß.
Zwischen dem Grünkohl und den Tomaten wachsen Herbstanemonen.
Zwischen den Terrassenplatten wachsen Disteln.
Das Prinzip ist klar. Nur zwischen den jungen Sprösslingen in den Gemüsebeeten – da finden sich schnell Schnecken ein, und zwar die gefräßigen.
Ein Jahr lang durften wir unserem Garten nun beim Sprießen, Wachsen und Gedeihen zusehen. Zwölf Monate, vier Jahreszeiten, ein Lebenszyklus der Natur. Die Arbeit verteilte sich gleichmäßig auf die Räume und die Zwischenräume. In beiden ging es viel um Schadensbegrenzung. Und doch ist es eine erfüllende Aufgabe, die Arbeit in der Gartenkolonie am See, am Rande der Stadt. Vor allem, wenn der Grünschnitt aus den Zwischenräumen auf dem Kompost gelandet ist und die Ernte auf dem Küchentisch.
Die Gartengeschichten, auftretende Personen, Situationen und Gegebenheiten, auch die Person des fiktiven Ich-Erzählers, sind frei erfunden und/oder literarisch überhöht. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und real existierenden Gartenkolonien sind rein zufällig.