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Begegnungen

Eins der schwierigsten zwischenmenschlichen Dinge ist das Sich-Begegnen. Damit meine ich noch nicht einmal das Ansprechen oder das Kontaktknüpfen, sondern eine ganz banale Begegnung zweier Menschen in freier Wildbahn. - Eine Kolumne für den Schweriner Express
Langer Korridor, kühle Atmosphäre
Ein langer, langer Korridor. Unangenehm für Begegnungen

Eins der schwierigsten zwischenmenschlichen Dinge ist das Sich-Begegnen. Damit meine ich noch nicht einmal das Ansprechen oder das Kontaktknüpfen, sondern eine ganz banale Begegnung zweier Menschen in freier Wildbahn. Sollte doch nicht so schwierig sein! Auf dem Gehweg, in der Fußgängerzone, da ist doch Platz genug für zwei nebeneinander.

Scheinbar geht es um mehr, als bloß darum, unfallfrei aneinander vorbei zu kommen. Je eher man sich wahrnimmt, desto schwieriger wird es. Ein langer gerader Gehweg, ganz dort hinten kommt mir jemand entgegen. Unsicherheit. Wo schaue ich hin? Mein Blick ist nicht mehr frei, sondern kontrolliert. Ich starre einen halben Meter vor mir auf den Boden. Oder rechts oder links. Wann darf ich aufschauen? Darf ich überhaupt aufschauen? Er/sie ist immer noch da. Kommt näher, eine Begegnung ist unvermeidlich. Unbehagen. Oder ich sehe die Person frühzeitig an. Hält sie meinem Blick? Was tue ich dann? Grüßen? Im letzten Moment wegsehen?

Ein architektonisches Verbrechen war das Institut für Physik in Berlin-Dahlem, in dem ich einige Jahre studieren und forschen durfte. Es besitzt zwei gerade, unendlich lange Korridore, die im Obergeschoss zwei Gebäudeteile über eine Straße verbinden. Über der Straße war der Gang natürlich kreuzungsfrei. Sah man aus dem anderen Trakt jemanden entgegenkommen, sah man ihn sehr lange entgegenkommen. Wohin bloß schauen?

Ein enger Korridor oder Fußweg erhöht die Schwierigkeit nochmals. Es sei denn, er ist so eng, dass er eigentlich nur eine schmale Spur besitzt. In dem Fall muss man kommunizieren oder einer macht freiwillig frühzeitig Platz. Im anderen Fall spielt sich das Platzmachen und das Kommunizieren im subtilen Bereich ab. Eine Begegnung wird zum Stegkampf, Millimeter von der eigenen Richtung abzuweichen, gilt bereits als Eingeständnis einer Niederlage.

Es gibt zwei Strategien, eine Begegnung ohne blaue Flecken zu überstehen:
1. Der Hochstatus: Linie halten, zunächst uninteressiert scheinen, begegnendes Objekt entweder überhaupt nicht wahrnehmen oder früh wahrnehmen, dann mit festem Blick fokussieren und klar machen, wem der Gehweg gehört.
2. Der Tiefstatus: Blick auf den Boden gerichtet, die begegnende Person ist im peripheren Wahrnehmungsfeld indirekt fokussiert. Ziel ist es, möglichst früh festzustellen, welche die sicherere Seite zum Passieren ist. Ab und zu einen kurzen Blick nach oben richten, dann schnellstes wieder auf den Boden. Frühzeitig ausweichen. Nach der Begegnung: kurzer Schulterblick, Gefahr vorbei?

Interessanter sind die Begegnungen zweier Personen mit annähernd gleichem Status. Das hat die häufig erlebten Tänze rechts-links-Ausfallschritt vor der eigentlichen Begegnung zur Folge. Amüsiert und entschuldigend, wenn es sich um eine Tiefstatus-Begegnung handelt, bestimmt bis aggressiv, wenn es sich um eine Hochstatus-Begegnung handelt. Lustig anzuschauen ist beides.

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Dieser Artikel entstand im Juni 2008 als Kolumne für die "Querseite" im Schweriner Express.

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