
Der Deutsche liebt sein Wohnzimmer. Seine Couch, seinen Couchtisch,
seine Fernbedienung. Der Deutsche liebt seinen Hintergarten. Den trennt er mit einer Sichtschutzhecke gegen neugierige Blicke ab. Das macht es heimeliger, das Sonnen, das Grillen, selbst das Rasenmähen.
Der Deutsche liebt sein Individualverkehrsmittel, seine Familienkutsche. Auch wenn er nur langsam im Stau damit unterwegs ist, es ist der individuelle Bereich, das mobile Wohnzimmer, Revier auf Rädern. Was darin passiert, wer eindringen darf, das entscheide ich. Ich, der Deutsche, mit meinem deutschen Gemüt.
Sobald ich in den öffentlichen Raum trete, gebe ich meinen Schutz auf. Ich werde verletzlich. Eisenbahnabteile, wo sich mir Gottweißwer gegenüber setzen kann, haben ein Gefahrenpotential.
In Kneipen und Gaststätten setze ich mich an den Platz, der am weitesten vom nächsten Nachbarn entfernt ist. Im Urlaub reserviere ich mit meinem Handtuch schon nach dem Abendbuffet den besten Platz am Strand für morgen. Und wenn mir dort jemand näher kommt, als ich es ertragen kann, verstecke ich mein Gesicht hinter Zeitschrift, Buch und Sonnenbrille. Die Sichtschutzhecke für unterwegs.
Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass im Supermarkt jemand seinen Joghurtbecher direkt hinter meine Fleischwurst legt. Ohne genügend Abstand, der klar macht, bis hier ist Meins!
Dafür wurden irgendwann schwarze Stäbchen erfunden, als Wohnzimmerwand
im öffentlichen Raum der Jäger und Sammler.
Es ist ein lustiges Experiment, diese Dinger nicht zu benutzen und
stattdessen zum Einkauf des Vorkunden nur eine Lücke zu lassen,
gerade so groß, dass sie signalisiert, hier fängt mein Einkauf an.
Typisch ist dann folgende Reaktion der Vorderfrau bzw. des Vordermannes:
langsam ansteigende Unruhe, ein unsicherer Blick, ob ich nicht doch noch die schwarze Plastikstange greife, dann der Versuch, mit einem Blick Beistand von der Kassiererin zu bekommen.
Kurzer Moment des Ignorierens der Situation. Schließlich ein beherzter Griff, der Stab landet in der Lücke. Strafender Blick zu mir.
Die Kassiererin ihrerseits hätte drei Möglichkeiten auf eine stäbchenfreie Lücke zu reagieren.
- Souverän: sie erkennt die offensichtliche Lücke kommentarlos.
- Kontrollierend: sie fragt in jedem Fall nach: „Bis hier?“ und
zögert vor dem Weiterkassieren absichtlich einen Moment. - Belehrend: sie greift den ersten Artikel, gibt mir aber einen Sekundenbruchteil Zeit, zu sagen: „Halt, das ist schon meins!“,
um dann auf die Warenabgrenzungsstäbchen neben dem Kassenfließband hinzuweisen.
Welche Reaktion ich auch bekomme, ich nicke entschuldigend.
Doch freut sich mein rebellisches Herz.
Dieser Text entstand 2009 für eine Kolumne im Schweriner Express und ist im Buch "Villa Später und andere Lesestücke des Herrn Ivalo" erschienen.