
El Paso, Texas
Der Presslufthammer machte ohrenbetäubenden Lärm. Jorge Oliveiro stand mit verbundenen Augen am Ende der Straße. Die Sonne brannte auf seinen Kopf und machte den Sand unter seinen Füßen zu einem heißen, trockenen Beton. Innerlich verfluchte er Gott, seine Eltern und vor allem die drei Männer, die mit ihm hier waren, am Ende der Straße, in der Wüste von El Paso, Texas.
Er brachte nicht mehr als ein hüstelndes „hijo de puta“ aus seinem klebrig-verstaubten Mund, woraufhin ihn ein Gewehrkolben am Kopf traf. Er hoffte, er wäre gleich tot oder zumindest ohnmächtig, denn er wusste, was ihm bevorstand, er war oft genug Zeuge dieses Rituals gewesen, allerdings auf der anderen Seite.
Er wehrte sich nicht, als man ihm die Augenbinde und die Handfesseln abnahm und ihn in die Kiste in der Grube stieß. Der Deckel schloss sich, er vernahm das Geräusch von Schaufeln, die in den Sand stachen. Und eine Maschinengewehrsalve, abgefeuert in den texanischen Abendhimmel.
Röntgenpraxis an einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen,
zur gleichen Zeit
Die Bahre, auf der ich liege, bewegt sich, endlich.
„Herr H., wir spritzen Ihnen jetzt ein Kontrastmittel, dann machen wir das Ganze nochmal von vorn. Sind Sie damit einverstanden?“
Äh, Spritze? Keine Ahnung, was? Gerade war ich noch froh, dass die zehn Minuten vorbei waren. Nun also nochmal rein?
El Paso, Texas, drei Wochen zuvor
„Hast du den Stoff?“
Und ob Jorge den Stoff hatte! Sauber verpackt in kleinen Tüten, die wiederum in größeren Tüten, die wiederum in einer Ladung Tiefkühlfleisch in seinem Lieferwagen. Ihm hätte gleich auffallen sollen, dass sein Gegenüber heute nervöser war als gewöhnlich. Und dass er den Mann in dessen Gesellschaft noch nie zuvor gesehen hatte. Zu spät. Er setzte zur Flucht an, spürte jedoch im gleichen Moment einen Gewehrkolben an seinem Kopf. Als er wieder zu Bewusstsein kam, saß er gefesselt neben dem Tiefkühlfleisch in seinem Lieferwagen.
Eine pfälzische Kleinstadt, zur gleichen Zeit
Ein leichtes Stechen im Po. Ein ganz leichtes eigentlich nur. Ich bin im Einsatz, Dienstreise. Geräte schleppen, Elektronik aufbauen, Kabel verkabeln, Regale verschieben. Und immer dieses Stechen im Po. Oberer Oberschenkel, linke Seite. Muskelkater? Egal. Rumstehen, Computer konfigurieren, nochmal unter Schränke kriechen. Muskelkater. Vom Rumstehen. Pah!
Hochtaunuskreis, folgender Tag
Kisten auspacken, Computer aufstellen, Kabel verkabeln, unter Ladentheken herumkriechen. Und wieder der Muskelkater. Verdammt. Jetzt zieht es schon in den Unterschenkel. Egal. Stehen, gehen, laufen, bücken. Und immer mal wieder hinsetzen.
Mittelstadt in Nordrhein-Westfalen, drei Tage später
Sofa, Wohnzimmer. Die Wärmflasche ist jetzt mein ständiger Begleiter. Ich unterteile den Tag in Zeiteinheiten der Tabletteneinnahme. Mittags, abends, vorm Zubettgehen und gleich, wenn beim Aufwachen der Schmerz anklopft. Eine Linie glühenden Stahls durchfließt mein linkes Bein, von der Pobacke hinunter am äußeren Oberschenkel, durch das Knie, die Wade bis in den kleinen Zeh. Mein Fuß ist ein tauber Ballon, meine Wade von Zeit zu Zeit ebenfalls. Ich weiß jetzt genau, wo der Ischiasnerv ver-
läuft. Den Nerv hatte ich immer schon, jetzt habe ich Ischias. Das nervt!
„Du hast es am Rücken!“, sagt Tante G.,
„Bandscheibe!“, weiß Nachbar W.,
„Mach Feldenkrais“, ermahnt die Mutter,
„Yoga“, schwört meine Bekannte B.,
„Spazierengehen“, rät meine Frau,
„Faszienbälle!“, empfielt Kollegin M.,
„Du musst in Bewegung bleiben!“, sagt die eine,
„Erst die Entzündung abheilen lassen“, sagt der nächste.
Auf einmal bin ich Freiwild. Rückenschmerzen kennen alle, da haben alle Geheimrezepte. Nur, dass ich noch gar nicht wusste, dass ich es am Rücken habe. Pobacke abwärts, erkläre ich. Aber es scheint gesellschaftliches Allgemeinwissen, dass Ischias gleich Rücken ist.
Ich pfeiffe mir die Nachmittagstablette rein, mache mir eine neue Wärmflasche und vermeide Bewegung. Das ist am besten: Sofa, Wärme, Entspannung. Jeder Schritt schmerzt, Liegen lindert. Solange ich keine ärztliche Verpflichtungserklärung zur therapeutischen Bewegung unterschrieben habe, halte ich die verdächtigen Körperteile ruhig. Zwangsläufig also den ganzen übrigen Körper mit. Nein, darüber bin ich jetzt nicht böse. Ich höre Musik und Podcast und warte, bis der Nerv aufhört zu nerven.
„Ich lag schon mal drei Monate auf dem Sofa!“, Tante G.,
„Es besteht eine gute Aussicht auf Heilung nach zwei Monaten bei 90 % aller Ischiaspatienten.“, Internetforum Gesundheit.
„Wann kommst du wieder arbeiten?“, mein Chef.
Exkurs Quantenphysik
Man sagt, dass etwas einen Quantensprung erfährt, wenn eine Entwicklung unstetig und in klar abgegrenzten Übergängen passiert. So, wie Sprünge mit kleinstmöglichem Abstand, also wie bei Treppenstufen. Ein gutes Beispiel: die natürlichen Zahlen. 1, 2, 3, ... immer eins mehr, dazwischen geht nichts.
Meine Theorie
Das Alter wächst nicht wie natürliche Zahlen, also immer plus 1 zum Geburtstag, sondern das Alter bleibt so lange konstant, bis ein Schicksalsschlag eine neue Stufe darstellt. Paff, Ischias, plus 10!
Fühlt sich so an. Ischias passt in die gleiche Kategorie wie Prostata. Man(n) hat es, aber sobald einem dies bewusst wird, ist man alt.
Mittelstadt in Nordrhein-Westfalen, Krankheitswoche zwei
Die erste Packung Tabletten ist aufgebraucht, das Bein schmerzt noch immer. Also zum Orthopäden.
„Termin?“
„Ach kommen Sie einfach, der Doktor hat zwischendurch zweieinhalb Minuten für Sie Zeit.“
„Wo tut‘s weh? Ah, so? So? So? Ne, okay! So? Ui! MRT! Noch Fragen?“
Mein schmerzzermarterter Geist spült alle Fragen, die ich eigentlich habe, gründlich durch den Schonwaschgang für Wattebällchen in meinem Kopf. Als ich stammle „Ja, ich aua! Was ich tun?“, steht der Doktor bereits in der Tür.
„Nehmen Sie andere Tabletten, Spritze kostet 11 Euro.“
„Äh, ja, gut, also, nein, ja gut ...“
Doch das hört der Doktor schon nicht mehr, da er inzwischen Herrn Özalan in Behandlungszimmer drei verbiegt. Ich fühle mich verdammt allein. Mit einem tauben Zeh und einer Überweisung zu einer sündhaft teuren Diagnoseuntersuchung.
MRT. Ist das nicht Kernspintomografie? Oder war das jetzt Kernspintumorgrafie? Und wieso hat der Doktor so besorgt geschaut, als ich von dem tauben Zeh berichtet habe?
„Jeder zweite Deutsche bekommt die Diagnose Krebs“, lese ich auf myhypochonder.de.
„Diesem 12-jährigen wurde wegen eines bösartigen Tumors in der Wirbelsäule ein Bein amputiert“,
weiß Gesundheitsmagazin Praxis.
„Die Nebenwirkungen der Chemotherapie ...“, beliebiges Internetgesundheitsforum.
In den Anfangstagen meiner Sofaliegezeit hatte ich diesen Film gesehen, mit dem jungen Mädchen, das Krebs und lauter farbige Perücken hatte. Es gibt schlimmere Schicksale als meins! Sie bekam die Diagnose vom Arzt telefonisch mitten in der Nacht. Drama!
Ich nehme meine Wärmflasche und die zweite Tablette von Schmerzmedikament II.
Mittelstadt in Nordrhein-Westfalen, Krankheitswoche drei
Vielleicht kommen die Schmerzen jetzt auch vom Bierentzug. Ich trinke ein Bier. Kommen sie nicht.
„Das macht ganz schlimme Geräusche. So wie eine Baustelle mit Presslufthammer“, sagt meine Mutter über das MRT.
„Da wird man in so eine enge Röhre reingefahren. Da kann es schon mal eng werden“, weiß Tante G.
Ich trinke noch ein Bier. Und esse die Reste der Schokolade von Weihnachten, die übrig geblieben ist, weil sie eigentlich nicht schmeckt.
Röntgenpraxis an einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen,
immer noch dritte Krankheitswoche
„Schuhe und Hose ausziehen, Uhr abnehmen!“
Das war jetzt zu schnell.
„Wie bitte? Hose auch? Oder nur der Gürtel?“
„Habbichdochgesacht!“
„Aber Sie kennen meinen Wattebällchenimhirn-Zustand auch nicht“, sage ich zum Glück nicht laut.
„Erstes Mal? Bequem hinlegen, schauen Sie da rein, dauert zehn Minuten. Augen zu, nicht bewegen! Wird laut.“
Und los! Es wird laut! Presslufthammer. Pulsierendes Stampfen. Maschinengewehrsalven. Dröhnendes Hämmern.
Ich atme tief, zumindest versuche ich es, und stelle mir vor, ich wäre oben auf einem Berg und könnte 200 Kilometer weit blicken. Für die nächsten zwei Minuten: Düsenjäger im Tiefflug. Im Sekundentakt. Ich stelle mir vor, ich stehe am Strand und höre die Wellen rauschen.
Wie lange bin ich jetzt hier? Atmen. Atmen. Tief bis in den Bauch und in den Rücken. Zählt das als nicht bewegen? Schnell wieder an was Angenehmes denken! Aber woran bloss, ohne eine Erektion zu bekommen? Ich liege hier ja in Unterwäsche. Und die Beine schauen raus. Jetzt sind es bestimmt schon acht Minuten. Oh, hui, die Bahre wird aus der Röhre rausgefahren. Und ich mit ihr, endlich!
Die MRT-Assistentin kommt herein gestürzt: „Nicht bewegen! Der Doktor möchte die Messung nochmal mit einem Kontrastmittel machen, sind Sie einverstanden?“
Exkurs: Texanische Bestattung
Kill Bill, Teil 2, Uma Thurman als Beatrix mit einer Taschenlampe ausgestattet in einer Holzkiste zwei Meter unter der Wüste.
„Das nennen sie hier eine texanische Bestattung.“
Beatrix kann Karate und damit erstaunliche Dinge bewältigen. Zum Beispiel sich aus einer engen Holzkiste befreien, über der zwei Meter Erdboden lagert.
Röntgenpraxis an einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen,
immer noch dritte Krankheitswoche
In meiner Bratenröhre habe ich eine Nothupe in der Hand und die Oberkante einer weißen Röhre fünf Zentimeter über meiner Nase. Düsenjäger, Maschinengewehrsalven, Presslufthammer, das Übliche. Bin ich schon bei Minute 8? Bin ich, die Bahre bewegt sich. Hose, Gürtel, Schuhe an.
„In einer Woche hat Ihr Arzt das Ergebnis, machen Sie dann einen Termin.“
Mittelstadt in Nordrhein-Westfalen, immer noch dritte Krankheitswoche
Am folgenden Tag. 7:45 Uhr. Das Telefon klingelt. Ich liege noch im Bett. Ich gehe nicht ran.
Sprachnachricht: „Hier ist Praxis Dr. A., der Herr Doktor möchte mit Ihnen heute über Ihre Diagnose sprechen. Können Sie direkt vorbeikommen?“
Drama können die!
Ich nutze die Wartezeit in der Praxis, um mir Farben für meine Perücken zu überlegen. Wobei Männer auch Glatze tragen können.
Diagnose: vergrößerter Lymphknoten. „Wir möchten zur Sicherheit eine CT mit Ihnen machen.“ Gegen die Schmerzen bekomme ich jetzt Cortison.
Das muss mein Wattehirn erstmal erfassen. Und ich brauche erstmal Frühstück.
„Vergrößerte Lymphknoten können von einer Entzündung, beispielsweise am Ischiasnerv verursacht werden“, beruhigende-gesundheitstipps.net.
Ich bekam drei Wochen Krankengymnastik verschrieben, hatte in der Folge keine weiteren Beschwerden mehr an Rücken oder Bein und die schwebende Gewissheit einer Nachuntersuchung „so in einem Jahr“ vor Augen.
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Aus "Villa Später und andere Lesestücke des Herrn Ivalo", Verlag Blogwerk 2018, Grafik von Gerald Hross