
Es war Ostern in der Gartenkolonie am See, am Rande der Stadt. Feiertage standen an, die Natur spross bereits seit Wochen und tauchte die Hügel in frisches Grün mit bunten Farbtupfern von Tulpen und Narzissen. Es war unser erster Frühling in der Laube, und wir staunten jeden Tag über das stete Wachsen und Gedeihen.
Doch die Ostertage sollten keine Erholung für uns sein. Wir hatten einen straffen Plan: Der Weg aus Betonplatten war über die Jahre auseinandergestrebt, Lücken taten sich auf – zwischen Weg und Randsteinen, zwischen den einzelnen Wegplatten, selbst schon zwischen den Randsteinen. Unsere Parzelle hat ein leichtes Gefälle, schon der sanfte, stete Druck der Erdmassen verursachte über die Jahre ein Driften der Platten von mehreren Zentimetern – mehr, als der Indische Subkontinent sich unter die Asiatische Platte schiebt und den Himalaya aufwirft. Plattentektonik im Garten. In den Zwischenräumen: Platz für Löwenzahn, Sauerklee und Eingangsportale zu unterirdischen Ameisenwohnstätten.
Statt Ostereiersuchen stand das Ausheben, Kärchern und Stapeln von 72 Betonplatten plus Randsteinen an – dazu Kiesschüppen, Grabenausheben, Planen, Messen, logistische Berechnungen.
Gleichzeitig – ich erwähnte es bereits – wuchs und spross das Grün allen Ortens in unserer Parzelle. Vor allem ein sehr hartnäckiges Gewächs machte schon früh im Jahr Anstalten, große Bereiche unter den Büschen zu bedecken, dabei kaum zu stoppen von Zäunen, Beeteinfriedungen, Kieselsteinen oder Rindenmulch.
„Das ist Giersch, das bekommst du nicht weg, wenn du es einmal hast!“, so warnte uns die Vorgärtnerin. Ein unscheinbares Kraut, damals im Herbst: grüne Stängel, grüne Blätter, den Boden unterhalb der Sträucher bedeckend. Damals fand ich es ganz hübsch – besser als der nackte Erdboden. So eine Art Permakultur, ein Prinzip, das mir durchaus sympathisch ist!
„Oh je, der ganze Giersch!“, so sagte es nun auch die Nachbarin und deutete auf einen großen Teil ihrer Parzelle – und unseren angrenzenden Teil.
Gewöhnlicher Giersch (Aegopodium podagraria) ist eine Pflanzenart aus der Gattung Aegopodium in der Familie der Doldenblütler (Apiaceae). Sie ist die einzige in Europa vorkommende Aegopodium-Art. Giersch gilt allgemein als lästiges Unkraut; er wuchert und lässt sich wegen seiner unterirdischen Triebe nur schwer bekämpfen.
… verrät ein bekanntes Online-Nachschlagewerk.
Als mir also zwischen den ganzen Bauarbeiten und Ingenieursberechnungen nach „echter“ Gartenarbeit zumute war, widmete ich mich dem Giersch. Eine seltsame Art der Prokrastination. Och, ich muss noch etwas Unkraut beseitigen – kann mich gerade noch nicht um das Ausschachten des Grabens kümmern.
Der Sinn und Zweck der Gartenarbeit ist es, Pflanzen der Art und an dem Platze wachsen zu lassen, die einem genehm sind – gleichzeitig aber alle anderen Pflanzen, die in Art und am Platze weniger wünschenswert sind, an eben diesem Wachsen zu hindern.
Allerdings lernte ich bereits, dass dort, wo etwas wächst, nichts anderes mehr wachsen kann – Stichwort Permakultur.
Hab ich letztlich durch das Beseitigen des wuchernden Grünkrauts und seines sämtlichen unterirdischen Wurzelnetzwerkes nur Platz für neues Kraut geschaffen? Wer weiß.
Allerdings lernte ich ebenfalls, dass das, was lästig ist, auch nützlich sein kann.
Andererseits ist Giersch ein wohlschmeckendes Wildgemüse.
Der Giersch hat entzündungshemmende, antirheumatische, wundheilende, antimikrobielle, harntreibende, blutreinigende, stoffwechselanregende, verdauungsfördernde, antikanzerogene, schmerzlindernde und beruhigende Eigenschaften.
… verrät ein bekanntes Online-Nachschlagewerk ebenfalls.
Unsere Nachbarin verriet uns, dass ein wohlschmeckendes Pesto aus ebendiesem Giersch bereitet werden könne. Und ja, es schmeckte köstlich – nach getaner Arbeit am Ostersonntag. So wurde aus Unkrautjäten die erste große Ernte der noch jungen Gartensaison in der Gartenkolonie am See, am Rande der Stadt.
Und auch der Weg nahm dieser Tage weiter Gestalt an – wenngleich wesentliche Arbeitsschritte noch auf uns warten.
Die Gartengeschichten, auftretende Personen, Situationen und Gegebenheiten, auch die Person des fiktiven Ich-Erzählers, sind frei erfunden und/oder literarisch überhöht. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und real existierenden Gartenkolonien sind rein zufällig.